14.08.2024

Ein Mensch ist mehr als seine Meinung

Unsere Meinungen entstehen durch unsere Lebenserfahrungen und das Umfeld, das uns prägt. Doch während sich Meinungen ändern können, bleibt unser wahres Wesen recht beständig. In unserem Alltag prallen Meinungen oft aufeinander. Darum ist es entscheidend zu verstehen, dass eine Meinung nicht den ganzen Menschen ausmacht. Der folgende Text beleuchtet die Bedeutung dieser Unterscheidung, um Konflikte besser zu verstehen und den Dialog zu fördern – mit dem Ziel, Brücken zwischen unterschiedlichen Sichtweisen zu bauen.

«Das eine ist der Mensch. Das andere seine Meinung. Die Meinung eines Menschen sagt sehr wenig darüber aus, wer dieser Mensch ist. Vielmehr sagt die Meinung eines Menschen viel darüber aus, woher er kommt, was er erlebt hat, mit welchen Menschen er zu tun hatte oder welche Erfahrungen er im Leben gemacht hat. Unser Sein ist das, was uns bei der Geburt mit auf den Weg gegeben wurde. Dabei hat sich unsere Meinung durch das entwickelt, was von aussen an uns herangetragen wurde» (Janssen, 2023, S. 114).

Die Erkenntnis, dass Meinungen nicht das Wesen eines Menschen ausmachen, sondern vielmehr dessen Lebensweg und Erfahrungen widerspiegeln, eröffnet eine erweiterte Perspektive im zwischenmenschlichen Umgang. Emotional herausfordernd wird es, wenn wir glauben, unsere Meinung zu sein, wenn wir uns mit ihr identifizieren. Gleiches gilt für den Umgang mit den Meinungen anderer. Denn Streit geschieht meist nicht, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, sondern vielmehr, wenn zwei (unterschiedliche) Meinungen aufeinandertreffen.

Wenn wir diese Differenzierung anerkennen, können wir Konflikte und Missverständnisse besser verstehen und angehen. In der Auseinandersetzung mit anderen Menschen ist es hilfreich, sich stets bewusst zu machen, dass eine abweichende Meinung nicht automatisch eine Bedrohung für die eigene Identität darstellt. Statt uns von der Emotion leiten zu lassen, dass unsere Meinung gleichbedeutend mit unserem Selbstwert ist, sollten wir offen für die Vielfalt an Erfahrungen und Sichtweisen sein, die andere Menschen mitbringen. Dies erfordert eine gewisse Distanz zu den eigenen Überzeugungen und die Bereitschaft, diese im Licht neuer Informationen zu überdenken. Es ist anspruchsvoll, zwischen Mensch und Meinung zu unterscheiden.

Indem wir uns klarmachen, dass Meinungen wandelbar sind und nicht unser tiefstes Wesen widerspiegeln, können wir entspannter und respektvoller mit den Meinungen anderer umgehen. Streit entsteht oft dann, wenn wir Meinungen absolut setzen und uns weigern, sie infrage zu stellen. Doch wenn wir lernen, diese Verknüpfung von Meinung und Identität zu lösen, entsteht Raum für Dialog, Austausch und gegenseitiges Verständnis.

Schliesslich geht es darum, in Gesprächen und Konflikten den Menschen hinter der Meinung zu sehen – mit all seinen Erfahrungen, Hoffnungen und Ängsten. Dies ermöglicht nicht nur einen wertschätzenden Umgang miteinander, sondern kann auch helfen, echte Gemeinsamkeiten zu entdecken, die jenseits blosser Meinungsunterschiede liegen. Wenn wir es schaffen, diese Ebene des Dialogs zu erreichen, können wir Meinungsverschiedenheiten als Chance begreifen – als Möglichkeit, zu wachsen, zu lernen und die Welt durch die Augen anderer zu sehen.

Im Kern bedeutet das: Ein Mensch ist mehr als seine Meinung. Und indem wir diese Unterscheidung respektieren, öffnen wir die Tür zu echtem Verständnis und konstruktivem Miteinander.

Jürg Kraft (Mediator), August 2024

 

Verwendete Quelle: Janssen, B. (2023). Das neue Führen. Führen und sich führen lassen in Zeiten der Unvorhersehbarkeit. München: Ariston Verlag.

Mensch und Meinungen